Rede zum 80. Jahrestag der Pogromnacht in Stadtoldendorf (2018)

 

am 09.November 2018, Gedenkveranstaltung im Sitzungssaal des Rathauses, 17 Uhr

 

für Ute

 

"Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

bitte verzeihen Sie mir, dass ich Sie gleich zu Beginn meiner Rede mit einer Frage konfrontiere. Ich vermute, Sie können sie sofort oder im Laufe dieses Abends oder zumindest im Nachgang beantworten.

 

Die Frage lautet: teilen Sie die Meinung, dass man aus der Geschichte lernen kann? Ich bitte um Ihr Handzeichen. Danke. [fast 100-prozentige Zustimmung]

 

Machen wir noch kurz die Gegenprobe: wer ist der Meinung, man könne nicht aus der Geschichte lernen? Danke. [1 Meldung]

 

Und wer von Ihnen zweifelt und weiß die Frage nicht zu beantworten? Danke. [keine Meldung]

 

Lassen wir dieses Ergebnis zunächst unkommentiert und blicken stattdessen gemeinsam zurück.

 

 

Stellen Sie sich vor, Sie haben sich schon immer auf Ihren Lebensabend gefreut und haben gedacht, dann führe ich sicher ein entspannteres Leben, dann kann ich dankbar meine Enkelkinder verwöhnen. Doch weit gefehlt.

 

Zwar teilen Sie mit Ihren Kindern, Ihren Kindeskindern, Ihren Schwiegerkindern eine gemeinsame Wohnung, dies allerdings unfreiwillig. Die Familie ist völlig isoliert und bietet nur nach Innen begrenzt Schutz.

 

Dennoch: geteiltes Leid ist halbes Leid? Nicht wirklich!

 

Zugegeben, Sie sind nicht wohlhabend, hatten jedoch als Zigarrenhändler Ihr Auskommen. Ihr Sohn war als Verkäufer im Außenhandel recht erfolgreich, zudem ein sehr beliebter Vorzeigeturner und Ihre Tochter wurde als Schneidermeisterin und alleinerziehende Mutter geachtet. Momentan leben Sie von der Unterstützung Ihrer Glaubensgemeinschaft, Ihr Sohn leistet Zwangsarbeit im Steinbruch und Ihre Tochter bekommt gelegentlich heimlich und verbotenerweise Änderungsaufträge zugesteckt.

 

Sie haben viel Zeit, viel zu viel Zeit, gottlob ist Ihnen allen noch der Garten geblieben.

 

Oft, viel zu oft sehen Sie sich gezwungen, eine Rolle zu spielen, die Rolle als „Opa Hoffnung“ - aus Selbstschutz und um Ihre Familie zu schonen, wohlwissend, dass jene Ihr Bühnenstück längst durchschaut. Ihre Enkelkinder sind dann immer ganz still, höchst konzentriert und fordern: „Opa, bitte, bitte noch mal von vorn!“ Und so berichten Sie immer wieder aus einer wundersamen Zeit, die nur wenige Jahre zurückliegt.

 

Sie sind mittlerweile ein genialer „Märchenerzähler“ und oft ertappen Sie sich dabei, dass Sie Ihr Geplaudere wirklich nicht mehr von einem Märchen unterscheiden können, dass Sie wohl träumten oder träumen.

 

„Onkel Kurts Motorrad“ ist so eine Geschichte oder „das offene Haus“ mit den unzähligen Festen, Begegnungen mit Freunden, Nachbarn: da, wo sich alle lieb hatten, inklusive endloser Achtsamkeit.

 

Am Erstaunlichsten aber ist die Episode aus dem heiteren Land, aus Argentinien, dort wo entferntere Verwandte in Sicherheit leben.

 

„Ja, Kinder, und dort werden auch wir in Kürze neu beginnen können. Alles ist auf dem Weg!“

 

Und die Kinderaugen fangen zu leuchten an.

 

„Noch mal, Opa, bitte!“

 

Wenig später folgt tatsächlich eine Reise, freilich in die falsche Richtung. Ihre Familie erhält die Aufforderung, sich für den Transport „zum Arbeitseinsatz im Osten“ vorzubereiten, d.h. Sie müssen ihr Hab und Gut akribisch auflisten, dürfen nur begrenzt Koffer mitnehmen, die Wohnung wird versiegelt.

 

Der Bescheid gilt für alle Familienmitglieder, nur nicht für Sie!

 

Hilflos entscheiden Sie trotzig, „ich komme selbstverständlich mit!“

 

Doch am Tag der Deportation werden Sie in Holzminden festgehalten. Die Bestimmungen verbieten Ihnen mitzufahren.

 

„Nicht Ihre Altersklasse“, hören Sie und nicht nur der Ton wird kälter.

 

Und da der Rückweg versperrt ist, werden Sie einfach einer Verwandten in Ottenstein zugewiesen. Sie müssen sich umgehend von Ihren Lieben verabschieden. Schockiert, gelähmt, versuchen Sie dennoch intuitiv diesen Moment ganz intensiv aufzusaugen, ihn festzuhalten: die kurzen Berührungen, die Gesten, die befangenen Augenblicke, die warmen, kalten zitterigen Händchen, die flüchtigen Küsse.

 

„Auf Wiedersehen!“

 

Trotz der Gesellschaft Ihrer Cousine vereinsamen Sie zusehends. Das Dorf kontrolliert noch grausiger als die Kleinstadt. Sie hoffen auf ein Zeichen, hoffen auf Post. Tatsächlich erhält ein Verwandter – nicht Sie - eine Karte vom Roten Kreuz!

 

Ein handschriftlicher Satz mit Bleistift geschrieben und dennoch geschwärzt:

 

„Uns geht es gut!“, Poststempel Warschau.

 

Wenige Monate später werden Sie ins sogenannte „Altersghetto“ verschleppt. Die Nationalsozialisten sind selbst im Erfinden von Begrifflichkeiten sehr kreativ!

 

Die Schwäche, der Hunger und die Einsamkeit werden nun unerträglich. Sie geben auf. Die letzten Gedanken kreisen um Ihre Frau, die 1936 als letzte auf dem hiesigen jüdischen Friedhof beerdigt worden ist.

 

Theodor Wallhausen verstirbt im Februar 1943 im Ghetto Theresienstadt.

 

Zeitgleich wird die kaum noch existente jüdische „Reichsvereinigung“, nun mit Sitz in Hamburg, durch die Gestapo gezwungen, auch den jüdischen Friedhof in Stadtoldendorf zu verkaufen. Sie bettelt, die gesetzliche Liegefrist von 30 Jahren doch bitte einzuhalten.

 

Die Stadt tritt ihr Vorkaufsrecht an die arisierte Weberei ab. Ihr neuer Besitzer plant auf dem Friedhofsgelände eine große Pausenhalle für die Beschäftigten zu errichten. Beide, Stadt und arisierte Firma, schreiben bis Kriegsende fleißig nach Hamburg, ohne je eine Antwort zu erhalten.

 

Der Ewigkeitsanspruch der Gräber, zumindest die Ruhefrist bis ins Jahr 1966, wird glatt übersehen, wie auch die Tatsache, dass es in Hamburg – und nicht nur in Hamburg – gar keine jüdische Gemeindevertretung mehr geben kann. 

 

 

Beispiel Nummer 2:

 

Stellen Sie sich vor, Sie werden als ein stets positiv gestimmter und vorurteilsfreier Mensch geschätzt. Ihr Charme sei seit Kindertagen einfach unschlagbar, meinen fast alle. Sie sind ein begabter Schüler und stehen kurz vor dem Wechsel auf die Realschule. Als Klassenbester im Fach Deutsch sollen Sie erneut ausgezeichnet werden. Doch plötzlich haben Sie den falschen Glauben. Das Buch von Hermann Löhns erhält der Zweitplatzierte.

 

„Macht nichts, habe ich eh schon“, denken Sie; aber die folgenden Tage, Monate, Jahre fällt Ihnen das Denken schwerer.

 

Sie werden gezwungen, die öffentliche Schule zu verlassen, die schulische Karriere ist damit beendet. Dank der Hilfe der Gesellschafterfamilien der Weberei Rothschild - jene übernehmen nicht nur das Schulgeld - können Sie sich an der Israelitischen Gartenbauschule in Ahlem ausbilden lassen.

 

Als Jugendlicher gefällt Ihnen das Großstadtleben Hannovers und dort verlieben Sie sich in Ihre spätere Frau.

 

Diese fürwahr große Liebe, der Umstand, ja das unglaubliche Glück, dass Sie fast nie mehr voneinander getrennt werden, Ihre ehrliche, herzliche Art und Ihre „Naivität“, immer wieder auf das Gute im Menschen zu setzen, helfen Ihnen die folgenden Schreckensjahre zu überstehen.

 

In Stadtoldendorf werden Sie bespuckt und durchleben in der Folge unbeschreibliche Gräuel:

 

die Deportation ins Ghetto Riga,

 

drei Monate im KZ Salaspils,

 

wieder zurück ins Ghetto,

 

Zwangsarbeit im Armeebekleidungsamt,

 

nach der Auflösung des Lagers per Schiff nach Hamburg,

 

dort ins Zuchthaus,

 

dann Todesmarsch ins KZ Kiel-Hassee.

 

Im Januar 1945 heißt es dort, „morgen fährst du nach Schweden!“ Sie glauben kein einziges Wort. Am Abend zuvor werden Sie gezwungen in einer großen Lagerhalle, gefüllt mit Leichen, Ihre Sträflingssachen gegen die Zivilkleidung der Toten zu tauschen.

 

Am Morgen müssen Sie einen weißen Bus besteigen, der Richtung Flensburg fährt.

 

Sie haben Todesangst, die sich fortwährend steigert, denn Sie können ja nicht ahnen, dass das Schwedische Rote Kreuz Sie tatsächlich freigekauft hat.

 

Erst auf der Fähre nach Schweden klopft Ihr Herz ein bisschen langsamer. Und als ein Rabbiner Sie in Oslo in Empfang nehmen will, wissen Sie, „ich bin frei!“

 

Die folgenden Monate können Sie und Ihre Frau sich erholen. Sie heiraten und gründen eine Existenz. Ihr Sohn Gerardo wird geboren und 1950 emigrieren Sie alle drei nach Argentinien. Die Familie Ihrer Frau lebt dort.

 

Von Ihrer eigenen Familie in Stadtoldendorf hat niemand überlebt.

 

Sie werden zeitlebens unter Albträumen leiden.

 

Heinz Rosenhain stirbt im November 2009 in Buenos Aires.

 

 

Beispiel Nummer 3 ist an dieser Stelle gelöscht.

Die Schilderung dieses Schicksals sollte ausdrücklich die genannte Person würdigen. Mir war nicht bewusst, dass meine Worte Angehörige verletzen könn(t)en. Auch habe ich es leider versäumt, die Angehörigen über meine Zeilen zu informieren bzw. um ihr Einverständnis zu bitten.

Ich bedaure dies zutiefst und bitte an dieser Stelle erneut um Verzeihung! 

 

 

ein letztes Beispiel:

 

Stellen Sie sich vor, Sie sind 12 Jahre alt und Ihr Leben kennt keinerlei Normalität. Von Beginn an leiden Sie unter der Norm, ausgegrenzt und beschränkt zu werden. Sie verinnerlichen, niemals und nirgends auffallen zu dürfen. Und Sie müssen sich schon im Kindesalter extrem disziplinieren.

 

Lediglich der Besuch der bereits erwähnten Israelitischen Gartenbauschule (in Ahlem) bietet Ihnen vielleicht die Chance, unter Gleichgesinnten freier, kindgerechter spielen und lernen zu können.

 

Doch in den Ferien und an den Wochenenden in Stadtoldendorf holt Sie die hässliche Wahrheit immer wieder ein.

 

Natürlich ist Ihre Familie aufopferungsvoll bemüht, Sie abzuschirmen, Sie abzulenken, Ihnen Liebe, Geborgenheit zu schenken, Ihnen irgendeine Form von Alltäglichkeit, von Sicherheit zu bieten, Trost und Hoffnung zu spenden.

 

Ihnen wird jedoch immer bewusster, dass selbst die Familie Ihre quälenden Fragen gar nicht zu beantworten weiß.

 

Die kleinen und größeren Schummeleien, die Ausflüchte fliegen nun auf und die Widersprüche werden selbst für Kinderohren größer.

 

Aber, was können Eltern, Verwandte denn antworten, beispielsweise auf die Frage, warum man, wenn man gehänselt wird, immer beherrscht reagieren muss, wo doch der im Radio, der auch den Fuß nachzieht, immer bis zur Heiserkeit schreien und brüllen darf?

 

warum man in Stadtoldendorf keine Spielkameraden hat? warum man eigentlich nicht mehr in die Badeanstalt darf?

 

oder warum ein Gruß, warum ein Lächeln nie erwidert wird? warum man nicht mehr einkaufen gehen kann?

 

warum man mit „Israel“ unterschreiben muss, obwohl man doch gar nicht so heißt?

 

oder warum man diesen blöden Stern tragen muss?

 

warum?

 

Ihrer Naivität längst beraubt, stellen Sie diese Fragen nur noch stumm.

 

Instinktiv erschaffen Sie sich Ihre eigene Welt:

 

„Ich darf nicht dazugehören. Also gehört Ihr bei mir auch nicht dazu! Basta!“

 

Intensive Ausreisebemühungen der Familie nach Nordamerika und nach Argentinien scheitern.

 

Dann, von Gleich auf Jetzt, wird Ihre Schule geschlossen und als Gefängnis bzw. Folterzentrale der SS missbraucht.

 

Die sich anschließende „unterrichtsfreie Zeit“ dauert ein halbes Jahr. Die vertraute Nähe zuhause tut Ihnen sehr gut.

 

Aber dann werden Sie unvorbereitet zusammen mit Schwester Margot, Bruder Ernst, Mama, Papa „Numero 2“, Onkel Kurt, Tante Lotte und weiteren Stadtoldendorfer Leidensgenossen nach Warschau deportiert.

 

In Hannover nimmt man Ihnen alle persönlichen Dinge ab und auf der Fahrt kommen die Koffer abhanden.

 

Im Ghetto fühlen Sie sich aus der Welt gefallen – auch aus der eigenen. Wie oder an was sollen Sie sich hier orientieren? Nachts hören Sie Opas Stimme, aber Opa erzählt keine Märchen mehr. Der Traum ist ausgeträumt. Sie werden Ihren 13. Geburtstag nicht erleben.

 

Und während das verzweifelte Finale ums nackte Überleben beginnt, werden in Stadtoldendorf Ihre Habseligkeiten und Ihr Familienhaushalt verscherbelt: Möbel, Lampen, Gartengeräte, Vorhänge, Geschirr, Töpfe, Gläser, Bilder, Kleidung, Schuhe, Bettwäsche, Spielsachen… all das, was Sie zurücklassen mussten.

 

Jede Kleinigkeit ist exakt aufgelistet: jedes einzelne Messer, jedes Handtuch, jedes Unterhemd.

 

Die Versteigerung, für drei Tage geplant, ist bereits in wenigen Stunden vorüber. Die selbstgebastelte Ritterburg und Ihre geliebte Seifenkiste finden neue, fremde Bewunderer.

 

Helmut Löwenstein ist 1942 im Ghetto Warschau, bei dessen Auflösung oder 1943 in Treblinka gestorben.

 

Seine originale Kennkarte befindet sich im Rathausarchiv.

 

Eine Stoffserviette und einen silberner Löffel aus dem Familienbesitz finden Sie in der ständigen Ausstellung des Jacob-Pins-Forums in Höxter.

 

 

Vier Beispiele, die die Schicksale Stadtoldendorfer Bürger veranschaulichen sollten.

 

Können Sie sich das vorstellen?

 

Kann man sich das überhaupt vorstellen?

 

Heute vor 80 Jahren, genau um diese Uhrzeit, ist die Synagoge noch unberührt. Sie ruht – allerdings nicht selbstgewählt. Bereits seit zwei Jahren sind Gottesdienste verboten.

 

Und die Welt? die ruht nicht, die ist unglaublich aus den Fugen geraten.

 

Seit 1930 sind die Nationalsozialisten an der Regierung des Freistaates Braunschweig beteiligt und nur wenig später beginnt auch der Mob in Stadtoldendorf zu regieren.

 

Die Nationalsozialisten erklären eine Religion zur Rasse und stempelt sie damit zum Sündenbock. In der Folge trifft diese unschuldige Minderheit nun auf einen grausamen und rigorosen Verwaltungsapparat.

 

Gendarmerie-Wachtmeister, Bürgermeister, Kämmerer, Landrat, Finanzamt - staatliche und kommunale Behörden - verfolgen paragraphentreu die Umsetzung des Sonderunrechts gegen die jüdische Bevölkerung.

 

Kaum jemand in den Ministerien, in den Rathäusern denkt daran, die gesicherte Existenz wegen der milderen Behandlung auch nur eines einzigen Juden aufs Spiel zu setzen.

 

Im Gegenteil: Verfügungen, Verordnungen, Erlasse, Gesetze legitimieren in den Augen der Staatsdiener aber auch in den Augen der Bevölkerung jedes Verbrechen.

 

Die Auswirkungen sind überall sichtbar – auch in Stadtoldendorf:

 

Ab 1933/34: die jüdischen Geschäfte werden boykottiert, geschlossen oder erhalten neue Besitzer.

 

Ausschluss per „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, Ausschluss „dank“ Einführung des „Arierparagraphen“: beispielsweise auch in Sport – und Turnvereinen.

 

1935: Erlass der „Nürnberger Gesetzte“

 

Aberkennung des Wahlrechts.

 

1936: Versammlungsverbot

 

Jüdische Mitschüler müssen die Bürgerschule verlassen.

 

Sommer 1938: Einzug der Gewerbescheine. Viele jüdische Familien werden mittellos und verarmen vollständig.

 

„Arisierungen“ im ganz großen Stil: Zwangsverkäufe von Immobilien und Grundstücken, u.a. wird die Weberei Rothschild Söhne zu einem Zehntel ihres realen Wertes gestohlen. Das Geldvermögen, evtl. Mieteinahmen werden auf Sperrkonten „gesichert“.

 

Die für den Januar 1939 angekündigte Einführung der Zwangsvornamen setzt das „Stadtoldendorfer Adressbuch“ bereits 1938 um.

 

Sie lesen dort die Zusätze „Sara“ und „Isidor“.

 

Stadtoldendorf ist wieder einmal mehr der Zeit voraus!

 

Und heute vor 80 Jahren, in nur wenige Stunden, dreht sich das Rad der Unvorstellbarkeiten noch ein wenig schneller. Die Synagoge wird geschändet und geplündert; die Fenster zerschlagen, das Feuer noch rechtzeitig gelöscht, um die unmittelbar angrenzenden Häuser nicht zu gefährden.

 

Die Ruine gilt fortan als Schandfleck – nicht als Mahnmal.

 

Knapp ein Jahr später erfolgt ihr Verkauf auf Abbruch. Die auf dem Dachboden der Bürgerschule „geparkten“ kostbaren Thorarollen beabsichtigte man nach Kriegsende zu veräußern bzw. im Heimatmuseum auszustellen. Erst Ende 1958 werden sie an den Jüdischen Landesverband zurückgegeben.

 

Heute vor 80 Jahren, in der kalten Nacht, werden 13 Mitbürger verhaftet.

 

Der 83-jährige Rabbiner Salomon Braun wird aufgrund seines Alters bereits in Holzminden wieder entlassen.

 

Die 12 Namen der ins Konzentrationslager Buchenwald Verschleppten lauten:

 

Arthur Braun

 

Paul Heinberg

 

Paul Jacobson

 

Theodor Lichtenstein

 

Julius Rosenhain

 

Julius Rothenberg

 

Hermann Schartenberg

 

Julius Stein

 

Albert Schoenbeck

 

Heinrich Ullmann

 

Kurt Wallhausen und

 

Theodor Wallhausen

 

Die Not im Konzentrationslager, das bewusst auf die unzähligen Deportierten nicht vorbereitet ist, spottet jeder Beschreibung: unfertige Baracken, keine Latrinen, tagelanges Ausharren auf dem Appellplatz, ohne die Notdurft verrichten zu dürfen.

 

Erst nach zwei, drei Tagen gibt es etwas zu trinken und zu essen - Gulasch aus gepökeltem Walfleisch.

 

Buchenwald dient der Demütigung, der Entmenschlichung und der Erpressung. Letztes Hab und Gut gehen hier verloren bzw. finden neue „Eigentümer“.

 

Nur, wer erklärt, umgehend zu emigrieren und über die Vorkommnisse zu schweigen, hat die Chance auf Entlassung – nach Wochen, nach Monaten.

 

Als die Männer kahlgeschoren, verstört und eingeschüchtert nach Stadtoldendorf zurückkehren, steigert sich die Angst in den betroffenen Familien ins Unerträgliche. Nur sehr wenige konnten bisher überhaupt emigriert.

 

Die Flucht in die Anonymität der Großstädte hilft bestenfalls Zeit zu gewinnen. Rastlos werden nun Konsulate und Behörden aufgesucht; Angehörige, die im sicheren Ausland leben, werden um Hilfe bei der Ausreise, um finanzielle Unterstützung gebeten.

 

Mit Ausbruch des Krieges spitzt sich die Lage dramatisch zu. Die Männer werden zur Zwangsarbeit verpflichtet.

 

Stets gibt es neue einschränkende „Gesetze“, Verbote - beispielsweise des Bezugs von Seife, Eiern, Milch, Fleisch, Zwangsveräußerungen aller Art,

 

Verbot von Rundfunkgeräten, Fahrrädern, Telefonen, Schreibmaschinen, Fotoapparaten, Verbot der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Verbot von Kinobesuchen, von Haustieren, von Zeitungen.

 

Jüdische Patienten haben in den Heil- und Pflegeanstalten keine Überlebenschance: sie werden vom „Tötungsprogramm“ nie zurückgestellt.

 

Ab September 1941 müssen die Bürger jüdischen Glaubens sichtbar den gelben Stern tragen.

 

Es folgen die Deportationen zum „Arbeitseinsatz im Osten“: im Dezember von Hannover aus ins Ghetto Riga, im März 1942 ins Ghetto Warschau.

 

Im Juli 1942 wird Julie Ullmann ins Ghetto Theresienstadt verschleppt und knapp zwei Jahre später in Auschwitz ermordet.

 

Damit hört die jüdische Gemeinde Stadtoldendorfs auf zu existieren.

 

30 Bürger jüdischen Glaubens, die während der NS-Zeit in Stadtoldendorf lebten, werden Opfer des Holocaust.

 

Bürger jeden Alters und jeder „Gesellschaftsschicht“. Menschen mit Wünschen, Hoffnungen und Träumen, mit dem Recht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, mit dem Recht auf Freiheit!

 

Diese Bürger und ihre Familien sehnen sich nach einem Rechtsstaat, sehnen sich nach einer Polizei, die hilft und beschützt, sehnen sich nach einem Rechtsanwalt, der wirklich verteidigen kann, sehnen sich nach einem Richter, der tatsächlich und unabhängig Recht spricht, sehnen sich nach einer Presse, die frei berichten, die überhaupt berichten kann… sehnen sich nach einem Nachbar, der hilft!

 

….

 

Eine weitere Frage, die nach der hiesigen Erinnerungskultur, ob gelungen, missglückt, schwierig…, müssen Sie sich selbst beantworten.

 

Dabei mögen die nun folgenden Anmerkungen Ihre Antwort erleichtern. Sie werden feststellen:

 

vieles ist ganz sicher dem Zeitgeist geschuldet, aber manches besitzt durchaus Alleinstellungsmerkmale.

 

Unmittelbar nach Kriegsende, bereits im Juni 1945, werden die Instandhaltungskosten für die zerstörten Gräber des jüdischen Friedhofs den Verursachern in Rechnung gestellt.

 

Pförtner Oppermann, Kontorbote Twele und Webmeister Adam erhalten Zahlungsforderungen von je 115 Reichsmark und 20 Reichspfennigen, wobei weitere Kosten in Aussicht gestellt werden.

 

Wir wissen nicht, ob die genannten Summen, die Taten der hauptamtlichen bzw. hauptverantwortlichen Nationalsozialisten gleich mitsühnen. Dies erscheint durchaus beabsichtigt, denn jene können völlig „unbefleckt“ ihre privaten wie auch beruflichen Karrieren fortsetzen. Die Täter werden offiziell nie thematisiert – bis heute.

 

Was bleibt, ist das schlechte Gewissen?

 

Am 4. Oktober 1951 ist in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu lesen: „Entnazifizierungsakten verbrannt – in Stadtoldendorf, Kreis Holzminden, sind in Anwesenheit des Bürgermeisters und aller Ratsmitglieder die Entnazifizierungsakten im Ofen des Städtischen Gaswerkes verbrannt worden. Vor dem geöffneten Ofen verwies der Bürgermeister in einer Ansprache darauf, daß Stadtoldendorf als erste Stadt der Bundesrepublik einen Schlußstrich unter die gesamte Entnazifizierung ziehe.“

 

Besagter Bürgermeister Noske, der hier in naiver Weise „die Stadt befrieden“ möchte, findet allerdings 1963, gegen viele Widerstände aus dem Stadtrat, die richtigen Worte zum 25. Jahrestag der Pogromnacht. In würdiger Form findet ein Gedenken auf dem jüdischen Friedhof statt.

 

Bereits Anfang der 1950er Jahre ehrt die Stadt die Vertriebenen mit einer stilisierten Tafel an der Rathaustreppe.

 

Zeitgleich entsteht eine Kriegsgräbergedenkstätte, fortan „Ehrenhain“ genannt, auf dem öffentlichen Friedhof, dort werden u.a. fünf SS-Soldaten, darunter ein 31-jähriger „Unterscharführer“ geehrt.

 

Der jüdische Friedhof hingegen verharrt im „Dornröschenschlaf“: so gehen beispielsweise Gräber verloren: zwar wird ihr Zustand auch in den folgenden Jahrzehnten dokumentiert, aber die Namen festzuhalten, wird übersehen.

 

In Bezug auf den Synagogenplatz, Eigentümerin bleibt weiterhin die Stadt, ist man allerdings besonders kreativ. Hier entsteht ein Spielplatz, besser: ein, nicht nur für Kinderaugen, riesengroßer Sandkasten!

 

Ende der 1970er Jahre versuchen die Jusos eine Ausstellung „Meine Heimatstadt im Dritten Reich“ zu initiieren, sie scheitern jedoch an den Altvorderen – nicht nur aus der eigenen Partei.

 

Erst im September 1981 kann sich Bürgermeisterin Martha Warnecke durchsetzen: eine Grünanlage und ein Gedenkstein werden auf dem ehemaligen Synagogengelände der Öffentlichkeit übergeben.

 

In diesem Jahrzehnt ist das Gedenken eher privater Natur: Jugendliche treffen sich dazu im Kerzenschein auf dem jüdischen Friedhof.

 

1996 erscheint Christoph Ernestis/Günther Lilges Erinnerungsbuch „Sie waren unsere Nachbarn“. Dank der im Rathaus wiederentdeckten Kennkartenanträge erhalten die jüdischen Opfer endlich ein Gesicht. Ihr Schicksal wird zum ersten Mal in einer Ausstellung gewürdigt.

 

Und in diesem Kontext wenden sich manche Angehörige an die Stadt. Es wird versäumt diese Kontakte zu pflegen, zu nutzen; die Chance verpasst, Holocaust-Überlebende endlich einzuladen.

 

Im November 2001 zum 100. Jubiläum wird die Gedenktafel am Charlottenstift, die an den Stifter, den Geheimen Kommerzienrat Max Levy und dessen Frau Charlotte erinnert, restauriert.

 

Im September 2007 kann der sanierte Kellbergturm dank des Fördervereins wiedereröffnet werden. Der Spenderobelisk würdigt großflächig den Stifter Oscar Wolf.

 

Zum 70. Pogromgedenken initiiert die Homburg-Realschule einen Lichtergang durch die Innenstadt.

 

Im Dezember 2007 werden elf so genannte „Stolpersteine“ verlegt. Initiatorin und Patin ist Ute Siegeler aus Borken/Westfalen. Sie ist eine Nachfahrin der hiesigen Familien Rothenberg, Löwenstein, Wahlhausen und Rosenhain.

 

Erst im Jahr 2000 - nach dem Tod der Mutter sowie der Großmutter - begibt sich Frau Siegeler auf die Suche nach ihren jüdischen Wurzeln. Beide haben dazu immer geschwiegen, sie wollten Ute Siegeler beschützen.

 

Es ist ein schmerzvoller Weg, eine lange Reise in die Vergangenheit, die sehr viel, die zu viel Kraft kosten wird.

 

Mehrere Jahre der Vorbereitung, der Aufarbeitung und die Widerstände vor Ort scheinen unüberwindlich.

 

Frau Siegeler findet Mitstreiter, sie bleibt beharrlich.

 

Die Erinnerung, die Mahnung an das Schicksal nicht nur ihrer eigenen Familien wird zu ihrer Lebensaufgabe.

 

Ohne Ute Siegelers unermüdliches Engagement, ohne ihre Kraft, ohne ihre Ideen hätte es die nun folgenden Begegnungen mit Angehörigen, die Zusammenführung der Familie nie gegeben.

 

Ute Siegeler ist der Motor einer korrigierten, wahrhaftigeren, einer ehrlicheren örtlichen Erinnerung. Sie öffnet verschlossene Türen, macht Undenkbares möglich. Mittlerweile hat Gunter Demnig 32 Erinnerungssteine in Stadtoldendorf verlegt. Mitte 2015 verstirbt Ute Siegeler nach kurzer schwerer Krankheit.

 

Folgende Familien besuchen – meist im Kontext „Stolpersteine“ - Stadtoldendorf:

 

im November 2008: Ruth Torode zusammen mit Sohn Ben aus Irland

 

im Dezember 2008: Tom Schuster, ein Fünffach-Urenkel von Joseph Rothschild (Ephraims Bruder) aus den USA.

 

im April 2009: Rabbiner Walter Rothschild aus Hamburg zusammen mit seiner Familie und Herrn Kieckbusch.

 

im November 2009 zur 2. Stolpersteinlegung:

 

Richard Wolff zusammen mit seinen Söhnen Noah, Jonathan aus Zürich und Sohn Niklas aus Wien sowie David Matzdorf aus London.

 

Im Dezember 2010: zur 3. Stolpersteinlegung: Familie Barbara und Ulrich Hausmann aus Köln und Lagesbüttel.

 

im Okt. 2011 und zur 4. Stolpersteinlegung im März 2014:

 

Ana Gunsberg und Gerardo Rosenhain aus Buenos Aires.

 

im Mai 2016: Anne und John Harris aus Manchester zusammen mit Bernhard Gelderblom.

 

Apropos Ana und Gerardo: in unserer Gemeinde ist es eigentlich selbstverständlich für diesen oder jenen sinnigen oder manchmal auch weniger sinnigen Zweck im Verein, im Verband, im Netzwerk einen oder mehrere Sponsoren zu finden. Lobbyarbeit at his best, sozusagen.

 

Bemüht um einen Reisekostenzuschuss – Argentinien ist ja nicht gerade mal um die Ecke – gab es jedoch nicht einen einzigen Sponsor – alle Kassen waren leer und das Bedauern umso größer!

 

Seit 2010/2011 finden Sie im Neubaugebiet „Rumbruch“ die „Max-Levy-Straße“.

 

Heute genau vor drei Jahren wird der ehemalige Synagogenplatz in „Ephraim-Rothschild-Platz“ umbenannt.

 

Es gibt zwar zwei Hinweis- bzw. Erklärungstäfelchen, aber im Vorbeifahren oder im Vorbeigehen finden Ihre Augen jedoch kein Platzschild.

 

Ein Zeitzeuge, der und dessen Familie die NS-Verfolgung erleiden musste, lebt mitten unter uns.

 

Frau Siegelers Familie ist weiterhin regelmäßig vor Ort.

 

Ein Angehöriger besucht ab und an ganz still Stadtoldendorf. Er legt dann für seine Familie Blumen vor dem Leitzenhaus nieder, die leider höchstens eine halbe Stunde überleben: entweder werden sie zerfleddert oder einfach zweckentfremdet „mitgenommen“.

 

Im Sommer waren erneut Noah und Richard Wolff hier zu Gast.

 

Aktuell besteht Kontakt zu Wolfgang Schoenbeck aus Guatemala. Herr Schoenbeck beabsichtigt Stadtoldendorf demnächst zu besuchen.

 

Im letzten Jahrzehnt gab es wiederholt die Möglichkeit mit Angehörigen in Kontakt zu treten, gab es die Möglichkeit, sich mit den Schicksalen der hiesigen NS-Opfer intensiver auseinanderzusetzen. Und diese Chancen bestehen weiterhin!

 

So gesehen: allen Irrungen und Wirrungen, allen Verspätungen zum Trotz scheint Stadtoldendorf bezüglich Erinnerungskultur durchaus auf dem richtigen Weg zu sein?

 

Ja, aber…

 

seit gut einem Jahr sitzt eine Partei im Bundestag, die sich „Alternative“ nennt, ohne eine Alternative zu sein!

 

Sie finden ihre Abgeordneten mittlerweile in vielen Länderparlamenten wie auch im Holzmindener Kreistag.

 

Für den Samtgemeinderat und für den Stadtrat wurden allerdings noch keine Kandidaten aufgestellt – das scheint aber nur eine Frage der Zeit zu sein.

 

Bedauerlicherweise bestimmt diese Partei nach wie vor die politische Debatte, sie besetzt die Themen, besser: sie besetzt ein Thema und sie bricht pausenlos Tabus.

 

Die Meinungsfreiheit wird von ihr und ihresgleichen, also von den Feinden des Rechtsstaats, gnadenlos ausgenutzt, überreizt, provoziert, um die eigene Interpretation nach dem üblichen Eklat gleich nachschieben zu können.

 

Und darüber hinaus stilisieren sich die AfD und ihres Gleichen grundsätzlich als Opfer.

 

Geht es eigentlich noch?

 

Dieser Staat ist nicht perfekt, keine Frage. Sicher, der Rechtsstaat hat „Lücken“, hat Defizite, das liegt nun einmal in der Natur der Sache.

 

Unsere Freiheiten, die Möglichkeiten zur Selbstbestimmung, unsere Sicherheiten, unsere Toleranz sind beileibe nicht vom Himmel gefallen – sie sind abgerungen, erstritten, letztlich erarbeitet.

 

Die AfD will dies ändern, sie und ihre Mitstreiter wollen den Rechtsstaat nachhaltig beschädigen, ihn beseitigen. AfD und Co. träumen nicht nur von der Autokratie, von der Einheitspresse, sie laben sich an der Spaltung der Gesellschaft und ergötzen sich am Untergang.

 

Hätten diese Rechtsstaatsfeinde die Mittel, dann würde es ganz sicher kein Gedenken zum Jahrestag der Pogromnacht geben, sicher auch nicht zum Achtzigsten!

 

Nur, wir wären vielleicht oder ganz sicher trotzdem hier?

 

Erinnerungskultur ist für jene ein Fremdwort.

 

Erinnerung und Kultur fällt ihnen schwer. Sie sind vergesslich.

 

Gedenkstättenarbeit oder das ehrenamtliche Engagement beabsichtigen sie „umzugestalten“. „Um 180 Grad“? was immer das auch heißen mag: da bleiben sie unbestimmt. Sie relativieren, verfälschen… ihre Sprache ist entlarvend… menschenverachtend.

 

Seit Jahren sind sie auf allen denkbaren Plattformen – auch in unserer hiesigen Lebenswelt - volksverhetzend unterwegs.

 

Einem ihrer größten Hetzer wurde auch in Stadtoldendorf ein Forum geboten: eine Wahlkampfveranstaltung getarnt als „Bürgerdialog“ und zeitgleich, nur eine Tür weiter, tagte ein Samtgemeindeausschuss!

 

Bei der letzten Bundestagswahl, bei der letzten Landtagswahl gab fast jeder sechste Wähler in Stadtoldendorf diesen Rechtsstaatsfeinden seine Stimme.

 

Es gibt nur sehr wenige – und es sind im Grunde immer dieselben -, die in den sozialen Netzwerken und im realen Leben dagegenhalten, die Gesicht zeigen, die sich eindeutig (dagegen) positionieren, die aufklären und argumentieren.

 

Und ich sehe, einige dieser Aufrechten nehmen auch heute Abend teil!

 

Andererseits: aus der Kommunalpolitik hören Sie dazu offiziell so gut wie gar nichts. Nichts aus den Ämtern, nichts aus den Institutionen, nichts aus den Verbänden, nichts aus den Vereinen und auch nichts aus den Religionsgemeinschaften:

 

also nichts aus der evangelisch-lutherischen Gemeinde, aus der katholischen Gemeinde, nichts aus den vier Freikirchengemeinden und auch nichts aus dem DITIB - Türkisch Islamischen Kulturverein.

 

Apropos: erlauben Sie mir dazu bitte einen Nachgedanken: zu einer gelungenen Integration gehören mehr als Deutschkenntnisse und das Auswendiglernen des Grundgesetzes.

 

Der Psychologe Ahmad Mansour ergänzt, ich zitiere: „eine gelungene Integration in einer Demokratie fordert vor allem auch das Anerkennen und Praktizieren von Gleichberechtigung, von Meinungsfreiheit, der Trennung von Religion und Staat und die Verinnerlichung der deutschen Geschichte, das Anerkennen der historischen Verantwortung Deutschlands und somit auch die Ablehnung von Antisemitismus.“ („Klartext zur Integration“, 2018, Frankfurt a.M., S. 173)

 

Zweifellos hat dieser Satz universell für alle Menschen – für jeden Bürger, Neubürger, Gast oder Besucher - zu gelten. Letztlich wird niemand als Antisemit geboren!

 

Die Zeit der Sonntagsreden ist definitiv vorüber.

 

Wer die Verantwortung verschiebt, wer beispielsweise an den Staat, an die Regierung, an die demokratischen Parteien, an Institutionen, an die Kommune, letztlich an wen auch immer verweist und darauf wartet, dass „es“ irgendjemand schon richten wird, der macht es sich nicht nur zu einfach, der verhält sich fahrlässig.

 

Jeder einzelne von uns ist aufgerufen, jede Form, jedem Ansatz von Antisemitismus, von Fremdenfeindlichkeit, von Diskriminierung umgehend und überall entschieden zu begegnen.

 

„Leid und Schuld sind individuell; die Erinnerung und das lokale Gedächtnis hingegen müssen kollektiv sein.

 

Es gilt die Erinnerung an die grausamen Wahrheiten vor Ort wach zu halten und diese weiter zu vermitteln.

 

Das Erinnern und die Ehrung der Schicksale, der entsetzlichen Leidenswege der Opfer der NS-Zeit in Stadtoldendorf müssen der Mahnung dienen, dass die deutsche Gesellschaft nie wieder derart kläglich versagen darf.

 

Jenen, die die Konfrontation mit der historischen Wahrheit scheuen, sind sofort die Augen zu öffnen.“ (Selbstzitat, Rede zur 2. Stolpersteinlegung, 2009)

 

Wir Demokraten müssen viel lauter werden und viel mehr Gesicht zeigen. Bitte nehmen Sie das heute Abend Gesagte mit und tragen Sie es weiter.

 

Lassen Sie uns gemeinsam ein Zeichen setzten:

 

verdeutlichen wir, dass wir tatsächlich aus der Geschichte gelernt haben.

 

Zeigen wir, dass unsere Gesellschaft nicht gewillt ist, sich weiter spalten zu lassen, dass wir niemals Antisemitismus und Fremdenhass zulassen werden.

 

Bezeugen wir, dass unsere Gesellschaft nie wieder tolerieren wird, eine Minderheit als Sündenbock zu ächten.

 

Bekräftigen wir, dass wir den Rechtsstaat festigen und verteidigen werden.

 

Das sind wir nicht nur den Opfern und ihren Angehörigen schuldig, das sind wir auch uns selbst schuldig!

 

In diesem Sinne, herzlichen Dank für Ihre Teilnahme, Ihre Geduld und Ihre Aufmerksamkeit!"

 

© Jens Meier, 2018

 

 

Mein besonderer Dank gilt Torsten Maiwald, der durch seinen Antrag im Kulturausschuss das offizielle Gedenken erst ermöglichte.

 

 

Gedenkstein auf dem ehemaligen Synagogenplatz (Foto: Jens Meier, 12. November 2018)
Gedenkstein auf dem ehemaligen Synagogenplatz (Foto: Jens Meier, 12. November 2018)
... vor dem Gedenkstein - seit Jahrzehnten fertigt Roswitha Meier ein Tannengesteck (links) zum Jahrestag der Pogromnacht (Foto: Jens Meier, 12. November 2018)
... vor dem Gedenkstein - seit Jahrzehnten fertigt Roswitha Meier ein Tannengesteck (links) zum Jahrestag der Pogromnacht (Foto: Jens Meier, 12. November 2018)
Die geschändete Synagoge (Foto: undatiert)
Die geschändete Synagoge (Foto: undatiert)
Sitzungssaal im Rathaus - gestiftet 1912 von Max Levy (undatierte Postkarte)
Sitzungssaal im Rathaus - gestiftet 1912 von Max Levy (undatierte Postkarte)
"Onkel Kurts Motorrad" (Foto: Privatbesitz Ute Siegeler)
"Onkel Kurts Motorrad" (Foto: Privatbesitz Ute Siegeler)
Helmut Löwenstein (vorn) zusammen mit Schwester Magrot und Bruder Ernst (Foto: Privatbesitz Ute Siegeler)
Helmut Löwenstein (vorn) zusammen mit Schwester Magrot und Bruder Ernst (Foto: Privatbesitz Ute Siegeler)
Ernst, Helmut und Margot zusammen mit Onkel Kurt (Foto: Privatbesitz Ute Siegeler)
Ernst, Helmut und Margot zusammen mit Onkel Kurt (Foto: Privatbesitz Ute Siegeler)
"Opa Hoffnung" Theodor Wallhausen (Foto: Kennkartenantrag 1938)
"Opa Hoffnung" Theodor Wallhausen (Foto: Kennkartenantrag 1938)
Hochzeitsfoto von Cläire und Heinz Rosenhain in Oslo (Foto: Privatbesitz Cläire Rosenhain)
Hochzeitsfoto von Cläire und Heinz Rosenhain in Oslo (Foto: Privatbesitz Cläire Rosenhain)
Heinz Rosenhain in der Israelitischen Gartenbauschule in Ahlem (Foto: Gedenkstätte Ahlem)
Heinz Rosenhain in der Israelitischen Gartenbauschule in Ahlem (Foto: Gedenkstätte Ahlem)
Straßenschild im Neubaugebiet "Rumbruch" (Foto: Jens Meier)
Straßenschild im Neubaugebiet "Rumbruch" (Foto: Jens Meier)